Scalable Reading. Paul Heyses „Deutscher Novellenschatz“ zwischen Einzeltext und Makroanalyse

Interdisziplinäre Tagung in Konstanz/Kreuzlingen am 04.– 05. Juni 2015

 

Die Tagung solle ein offenes Experiment der Digitalen Literaturwissenschaft werden, so Organisator THOMAS WEITIN (Konstanz) eingangs. Angeleitet wurden die Analysen der Tagungsteilnehmer vom gemeinsamen Korpus (86 digitalisierte Novellen des Deutschen Novellenschatzes). Im Deutschen Novellenschatz finden sich sowohl kanonische Texte wie Goethes Die neue Melusine, mit der die Sammlung beginnt, als auch zahlreiche Werke, die zum „Big Unread“ der Literaturgeschichte gehören. Die Herausgeber Heyse und Kurz legten ihrer Auswahl einerseits das normative Ziel zugrunde, „Bewahrenswertes“ zu versammeln, sie versuchten aber zugleich, sich mit dem Massengeschmack zu arrangieren. Diese Ambivalenz macht die Sammlung literaturgeschichtlich und literaturtheoretisch interessant.

 

FOTIS JANNIDIS (Würzburg) (Versuch über die Makroanalysen einer Novellensammlung) beschäftigte sich mit dem Verhältnis der Befunde aus dem Novellenschatz zu solchen aus größeren (Novellen-)Korpora. Um Rückschlüsse auf die „Gesamtpopulation“ der Novellenliteratur des 19. Jahrhunderts zu ziehen, sei die Anzahl der Novellen im Korpus zu klein, es handle sich um ein „kleines, opportunistisches Korpus“, das korpusimmanente Rückschlüsse erlaube. Der Fokus von Analysen sei auf den „bias“ der Herausgeber zu legen – auf die normativen Maßgaben Heyses und Kurz‘, die in deren Briefwechsel verhandelt werden. Jannidis nutzte Verfahren der Stilometrie, des Topic Modeling und der Netzwerkanalyse und demonstrierte mit seinen Analysen methodenkritisch die Innovationschancen der Digital Humanities: „Operationalisierungen waren noch nie so gut wie heute, obwohl sie so schlecht sind.“

 

In detaillierter Lektüre analysierte RALF SIMON (Basel) (Bild-Topics der szenischen Dramaturgie) zwei Novellen des Novellenschatzes, Hackländers Zwei Nächte und Raabes Das letzte Recht. Ausgehend vom Begriff der ,Ikononarratologie‘ vertrat er die These, dass in Texten die Ikonizität der Semantik vorausgeht, indem Proto-Ikonen fortlaufend transformiert werden. Texte ließen die Verhandlung ihrer eigenen Bildlichkeit stets mitlaufen, vor allem die Novelle sei aufgrund ihrer Erzählrahmung auf Bildlichkeit ausgelegt. Um selbstreferenzielle Passagen zu finden, selektierte er per Wortsuche alle Stellen, in denen von Türen und Fenstern die Rede ist. Während Hackländers „grottenschlechter“ Text in seiner panoramatischen Umsicht vergleichsweise gut zum Beleg der These hinreichte, entzog sich Raabes Text der ikononarratologischen Deutung. Bei Raabe gebe es keinerlei Hinweise auf Poetologie, die Selbstthematisierung der Ikonizität entfiele zugunsten einer dekonstruktiven Verschiebung und Verhandlung von Bildlichkeit.

 

Der Konstanzer Informatiker ULRIK BRANDES (Drama um drei Ecken) stellte die Frage, ob sich Novellen in ihrer Figurenkonstellation von anderen Erzähltexten unterscheiden. Ausgehend vom Text Grundzüge einer relationalen Dramaturgie nach André Georgi, der das Bindungsdilemma als Nukleus des Dramas erachtet, schlug er instabile Dreieckskonstellationen als für die Novelle zentrale Figurenarrangements vor, bemerkte aber, dass weder Figuren noch deren Konstellation entscheidend seien, sondern die Transformation der Beziehungen durch Handlung. Zur Datenextraktion im Korpus müsste im Vorfeld geklärt werden, wie mit näherungsweisen Darstellungen verfahren werden soll und welchen Detailgrad diese benötigen. Theoretisch sei alles extrahierbar, die Instrumente zur Extraktion würden die Informatik und die Sprachwissenschaft, z. B. Charles J. Fillmores Kasusgrammatik, liefern, für gute Fragestellungen sei aber die Literaturwissenschaft verantwortlich.

 

Der Mediävist FRIEDRICH MICHAEL DIMPEL (Erlangen) nutzte das Novellenschatz-Korpus, um bislang ungelöste Probleme bei der narratologischen Annotation zur Diskussion zu stellen (Novellenschätze narratologisch auszeichnen und analysieren am Beispiel von Victor von Scheffels „Hugideo“ und der sozialen Netzwerkanalyse). Automatisierte Analysen stoßen bislang an ihre Grenzen, wenn es darum geht, Texte narratologisch auszuzeichnen. Unterscheidungen wie die von Erzähler- und Figurenrede müssen manuell annotiert werden, demonstrierte DIMPEL an Scheffels Hugideo. Damit es bei der Annotation zu homogenen Ergebnissen kommt, bedarf es eines sauber elaborierten Tagsets. Die Annotationsregeln müssen präziser sein als die der traditionellen Narratologie à la Genette und Martinez/Scheffel. Mit einer Annotation geht, so Dimpel, eine Desambiguierung des Textes einher, was diese Operation in Abhängigkeit zur Interpretation des Modellbenutzers setzt. Textauszeichnung könne nie frei von Subjektivität sein, jedoch solle das subjektive Moment in die Formulierung der Annotationsregeln verlegt werden, sodass die Anwendung der Regeln intersubjektiv nachvollziehbar bleibt.

 

Dem „Herausgeber-bias“ ging BENT GEBERT (Konstanz) (Versunken „in den Stürmen der Zeit“? Mären- und Novellenschätze. Beobachtungen zu einem Verdrängungssystem) auf den Grund. In ihrer Einleitung zum Deutschen Novellenschatz nähmen die Herausgeber eine Naturalisierung des Verfalls und Verlustes vor, wenn vom Versinken der Literatur „in den Stürmen der Zeit“ die Rede sei. Dem begegnen sie mit dem „Pflanzen neuer Novellenhaine“. Dieser Duktus wird auch im Vorwort des später verlegten Novellenschatzes des Auslandes gepflegt. Mediävistische Novellen- und Märensammlungen gerade aus Heyses Zeit, so Gebert, lassen die Verlustdiagnose als suspektes Manöver erscheinen, das als solches interessant sei. Paratexte wie die inkohärente Einleitung des Deutschen Novellenschatzes gehörten zur Analyse des Korpus, es bleibe offen, wie genau sie in quantitative Analysen mit eingebunden werden können.

 

Einen sprachwissenschaftlichen Akzent setzten die Konstanzer Computerlinguistinnen MIRIAM BUTT und CHRISTIN SCHÄTZLE, die den Genitiv als Stilmittel im Novellenschatz untersuchten. Ausgangspunkt war der historische Wandel im Kasussystem von Sprachen. Im Deutschen sei ein Genitivschwund zu beobachten, das Neuhochdeutsche verwende den Genitiv hauptsächlich adnominal und nur noch selten als Objektkasus. Eine gegen diesen Trend häufige Verwendung des Genitivs in literarischen Werken weise auf eine bewusste Sprachvariation hin, die als Stilmittel dient. Bei der Analyse des Deutschen Novellenschatzes stachen vor allem Hermann Kurz und Wilhelm Müller heraus, die den Genitiv häufiger als der Durchschnitt der Autoren des Korpus benutzten, ebenso deutlich unter diesem Durchschnitt lagen Jeremias Gotthelf und Edmund Höfer. Insgesamt, so der momentane Befund im Vergleich mit anderen Analysen, entspricht der Novellenschatz der Tendenz zur Rückbildung des Genitivs.

 

Mit dem Vortrag von KATJA MELLMANN (Göttingen) (Zum Aufbau der Zeitstruktur im Erzähleingang. Eine Untersuchung im Rahmen einer kognitivistischen Theorie des ‚Epischen‘) betrat die Tagung das Gebiet der kognitionswissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft. Mellmanns These zufolge stellt das epische Präteritum weniger eine Tempusmarkierung als vielmehr den kognitiven Modus des Epischen (Epitiv) dar: „Erzählen im Imperfekt ist lediglich konventionalisiert, nicht vergangenheitsmarkierend.“ Belege für die Existenz des Epitivs suchte Mellmann in den Erzähleingängen von 37 Novellen des Deutschen Novellenschatzes. Von 37 untersuchten Erzählungen weisen 27 aufgrund heterodiegetischen Erzählens kein raumzeitliches Koordinatensystem auf. Lediglich 4 der 10 homodiegetischen Erzählungen machen von einer Zeitkoordinate explizit Gebrauch. Demnach, so Mellmann, dominiert die Unbestimmtheit der Handlungszeit das fiktionale Erzählen. Wo Erzählsituation und Zeitkoordinaten nur lose aufeinander bezogen sind, wird das ‚epitive‘ Merkmal relativ selbstständig. Die maschinelle Automatisierung der Analyse gestaltet sich schwierig, da eine Ausschnittsbildung wegen der verschieden spät einsetzenden Erzählanfänge derzeit noch nicht möglich ist.

 

NICOLAS PETHES (Köln) (Thesaurus casuum? Zugänge zu Heyse/Kurz’ Novellenschatz) betonte die Nähe von Fallgeschichte und Novelle. Evidenz dafür lieferten Sigmund Freud (Krankengeschichten lesen sich wie Novellen) und André Jolles (Der Kasus besitzt eine Neigung zur Novelle). Im Hinblick auf die Novellen des Deutschen Novellenschatzes ging es Pethes darum zu zeigen, wie sie sich als Teil einer Fallsammlung reflektieren. Der ‚Fall‘ taucht in 13 Novellen beiläufig auf, in 6 weiteren bildet er das Erzählzentrum, darunter in Widmanns Katholischer Mühle („Der Fall war schwierig“) und Riehls Jörg Muckenhuber („… so wuchs doch die Spannung über diesen unerhörten Fall von Tag zu Tag“). Im zweiten Teil seiner Analyse untersuchte Pethes die selbstreflexiv verhandelte Zugehörigkeit der Novellen zu einer seriell angelegten Fallsammlung. Viele Treffer wurden für ‚Sammlung‘/,Sammeln‘, ‚Schatz‘ und ‚Erzählen‘ erzielt. Der Rückschluss von der Häufigkeit von Signalwörtern auf die selbstreflexive Einbettung der Novellen in ein serielles Sammlungsdispositiv wurde zugleich methodenkritisch reflektiert.

 

THOMAS WEITIN (Was steckt im Novellenschatz? Methodische Perspektiven auf eine historische Sammlung) verstand die im Vorwort des Novellenschatzes von Paul Heyse entwickelte ‚Falkentheorie‘ als Anleitung zur Operationalisierung. Die „starke Silhouette“ der Novelle denke kognitiv an die mentale Repräsentation beim Leser. Die verlangte Fähigkeit, den Inhalt „in wenigen Zeilen“ zusammenzufassen, sei als Sequenzierung zu verstehen, die Unterscheidbarkeit „von tausend anderen“ als ein distinktives Distanzmaß in Zeiten des literarischen Massenmarktes. Der Fokus des Vortrages lag auf dem Distanzmaß und der Frage, ob dieses im Delta-Verfahren operationalisiert werden kann. Dafür spricht, so Weitin, die stilorientierte Bandarchitektur von Heyse und Kurz, die die Novellen nach dem „Ton“ der Autorinnen und Autoren gruppierten. Mittels einer stilometrischen Netzwerkanalyse wurden die Ähnlichkeiten von Texten untereinander und die jedes Einzeltextes zum Gesamtkorpus bestimmt. Ergebnis: Heyse, Zschokke und Immermann gehören zu den Autoren mit besonders hoher Korpusähnlichkeit, können also als besonders durchschnittlich gelten.

 

Abschließend wurde die methodische Leitmetapher vom Scalable Reading diskutiert. Pethes wollte lieber von einem Bruch als von einer ‚Scale‘ sprechen, der Wechsel vom Distant ins Close Reading sei nicht stufenlos. Jannidis und Gebert mochten die Vorstellung der ‚Scale‘ dennoch nicht aufgeben. Einigkeit bestand darin, die gemeinsame Erforschung der Novellenschätze des 19. Jahrhunderts fortzusetzen.

 
 
 

Cornelius Eggert